Januar 24, 2022

Kana­das Wider­stand gegen Gerech­tig­keit

Wie die Indi­ge­nen Völker Kana­das sich behaup­ten

War­um ver­wei­gert gera­de Kana­da – das inter­na­tio­nal als selbst­er­nann­ter Men­schen­rechts­apos­tel auf­tritt – den Indi­ge­nen Völkern auf sei­nem Land trotz eige­nen Gerichts­ur­tei­len und völkerrechtlichen Instru­men­ten ihre ange­stamm­ten Rech­te?

Als welt­weit zweit­gröss­tes Land ist Kana­da (1) für vie­le Men­schen noch immer eine Desti­na­ti­on der Träu­me; es lockt uns mit gran­dio­ser Natur, unend­li­chen Wei­ten und Wäl­dern, in denen Bären und Wöl­fe in frei­er Wild­bahn leben. Die Erobe­rung und Besied­lung des Lan­des erfolg­te zumeist an den Küs­ten der Seen und der bei­den Welt­mee­re, sowie am Fuß der mäch­ti­gen Gebir­ge wie die Rocky Moun­ta­ins und in einem 350 km lan­gen Strei­fen ent­lang der Gren­ze zu den USA. Und dann sind da noch die Ureinwohner*innen des Lan­des, die First Nati­ons, Métis und Inu­it, wel­che ihre ange­stamm­ten Gebie­te bis heu­te ver­tei­di­gen müssen – von Bri­tish Colum­bia am Pazi­fik, dem auto­no­men Nuna­vut am Ark­ti­schen Oze­an bis Labra­dor am Atlan­tik, zumeist in ent­le­ge­nen, res­sour­cen­rei­chen nörd- lichen Gebie­ten. Außer wenn sie publi­kums­wirk­sam in vol­ler Rega­lia an Pow­wows etc. auf­tre­ten, wer­den sie von der brei­ten kana­di­schen Öffent­lich­keit v.a. als Sozialbezüger*innen wahr­ge­nom­men, die zum Groß­teil als «schma­rot­zen­de» Süch­ti­ge in den Armen­vier­teln der Städ­te oder in mise­ra­bel aus­ge­stat­te­ten Reser­va­ten ums Über­le­ben kämp­fen. Dass sie 98% ihres Lan­des ver­lo­ren haben, mit allen sozia­len, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Fol­gen, wird igno­riert.

Kana­das Ver­schleu­de­rung der immensen Res­sour­cen

Was ist schief­ge­lau­fen, im Ver­hält­nis der knapp 36,3 Mil­lio­nen Kanadier*innen, die erst mit dem Cana­da Act 1982 ihre vol­le Sou­ve­rä­ni­tät erhal­ten haben, und den ca. 1,7 Mil­lio­nen Indi­ge­nen, die in einem der reichs­ten Län­der unter Armut, Aus­gren­zung und Dis­kri­mi­nie­rung lei­den? Der pri­mä­re Grund ist die höchst pri­mi­ti­ve Wirt­schafts­form, die auf einem regel­rech­ten Aus­ver­kauf der Res­sour­cen basiert: Holz oder Erd­öl haben kei­ne hohe Wert­schöp­fung im eige­nen Land und sind auf den Export aus­ge­rich­tet. Kana­da kann sich die­se Ver­schleu­de­rung leis­ten, weil die Res­sour­cen in so gro­ßem Maß vor­kom­men – zumeist aber auf indi­ge­nem Land.

Kana­das Roh­stoff­in­dus­trie schnei­det sich ins eige­ne Fleisch, in der Mei­nung, indi­ge­ne Rech­te müssen nicht respek­tiert wer­den oder Nach­hal­tig­keit sei ange­sichts der Fül­le von fos­si­len Brenn­stof­fen oder Mine­ra­li­en ver­nach­läs­sig­bar; sie glau­ben, es loh­ne sich nicht, z.B. in eine arbeits­platz­in­ten­si­ve, diver­si­fi­zier­te Bau-und Möbel­in­dus­trie mit Holz zu inves­tie­ren – das schnel­le Geld hat Prio­ri­tät; Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und blei­ben­de Umwelt­schä­den wie durch den Abbau von Teer­san­den im Tage- bau, Insi­tu Lau­gung oder Frack­ing von Erd­gas und Erd­öl wer­den in Kauf genom­men. Und noch ein Punkt: Gera­de in Bri­tish Colum­bia, das sich auf die noch gel­ten­de König­li­che Pro­kla­ma­ti­on von 1763 des bri­ti­schen Königs Georg beruft und kei­ne Ver­trä­ge abge­schlos­sen hat, gehört das Land den Indi­ge­nen; doch sind Lokal­po­li­ti­ker oft mit den Raub­bau betrei­ben­den Unter­neh­men ver­hängt und weh­ren sich aus rein pri­va­tem Pro­fit­in­ter­es­se gegen Ein­be­zug und Betei­li­gung der recht­mä­ßi­gen indi­ge­nen Land­be­sit­zer. Vor 20 Jah­ren ver­such­ten sie in lang­wie­ri­gen Pro­zes­sen mit ein­zel­nen Stäm­men zu schlech­ten Bedin­gun­gen «neue Ver­trä­ge» aus­zu­han­deln, um an res­sour­cen­rei­ches Land zu kom­men. Nach weni­gen mise­ra­blen Abschlüssen, die kei­nen Gegen­wert zum Land­ver­lust brach­ten, gab die Regie­rung die­se Tak­tik auf, auch weil die meis­ten First Nati­ons kein Inter­es­se an «gefak­ten» Ver­hand­lun­gen zeig­ten, wobei sie immer betont haben, dass sie nicht a prio­ri gegen Fort­schritt sei­en, son­dern selbst bestim­men woll­ten, wie ihre eige­nen Res­sour­cen genutzt wer­den.

Indigenous Youth for Wetsuweten

Die Grup­pe «Indi­ge­nous Youth for Wet‘suwet‘en» stürmte im März 2020 mit hun­der­ten von Unterstützer*innen die Stu­fen zum Par­la­ment von B.C. © Mike Grae­me

Neue Regie­rungs­tak­tik: Kri­mi­na­li­sie­rung der indi­ge­nen Aktivist*innen

Erst unter dem jahr­zehn­te­lan­gen Druck von indi­ge­nen (und nicht-indi­ge­nen) Umweltschützer*innen ändert sich lang­sam etwas, aber sei­tens der Betrof­fe­nen «von unten», ange­trie­ben, nicht durch Geset­zes­än­de­run­gen. Denn lei­der wur­de die Ver­lo­gen­heit der kana­di­schen Regie­rung offen­kun­dig: Mit dem Amts­an­tritt des jun­gen Jus­tin Tru­deau 2015 keim­te zuerst Hoff­nung auf, da die­ser den Indi­ge­nen eine Bezie­hung «auf Augen­hö­he» ver­sprach. Dann aber wur­de die UN-Dekla­ra­ti­on für die Rech­te Indi­ge­ner Völker UNDRIP mit dem Argu­ment abge­schos­sen, sie gehe viel weni­ger weit als die natio­na­le Gesetz­ge­bung, und Land­rück­ga­ben waren kein The­ma mehr – auch der Pre­mier hängt am Tropf der mäch­ti­gen Indus­trie­bos­se. Längst fäl­li­ge sozia­le Pro­gram­me zu finan­zie­ren, die Auf­klä­rung der 4.000 Fäl­le von ver­schwun­de­nen und ermor­de­ten indi­ge­nen Frau­en und Mäd­chen zu beschleu­ni­gen, das indi­ge­ne Gesund­heits­sys­tem auf­zu­pep­pen, etc. soll­ten längst umge­setzt sein: damit ver­sucht die Regie­rung den Fokus von der Grund­satz­fra­ge des Land­be­sit­zes zu neh­men.

Verhaftung der Unistoten Brenda Michell

Ver­haf­tung der Unist‘ot‘en Bren­da Michell (Chief- Name Gel­tiy) bei RCMP-Raz­zia in Wet‘suwet‘en- Unterstützerlager im Nor­den von B.C., Febru­ar 2020. © Aman­da Fol­lett Hos­good

Die Indi­ge­nen las­sen sich aber nicht län­ger hin­hal­ten und weh­ren sich lan­des­weit mit fried­li­chen Pro­tes­ten, die seit Win­ter 2012 (2) ste­tig zuneh­men. Die Indus­trie­fir­men bedie­nen sich einer neu­en Tak­tik: Sie machen die Bun­des­po­li­zei RCMP zu ihren Hand­lan­gern und las­sen die­se die Pro­tes­te auf­lö­sen, die Blo­cka­den ent­fer­nen und die Indi­ge­nen kri­mi­na­li­sie­ren, um sie aus dem Weg zu schaf­fen. Das bin­det Kräf­te und Finan­zen der Stäm­me, wenn sie ihre Leu­te mit Kau­tio­nen und hohen Anwalts­kos­ten aus den Fän­gen der Jus­tiz befrei­en wol­len.

Die Visi­on des Arthur Manu­el

Die­se Ent­wick­lung hat Art Manu­el vor­aus­ge­se­hen, der 2017 all­zu früh ver­stor­be­ne cha­ris­ma­ti­sche Exper­te und Buch­au­tor für indi­ge­ne Rech­te, uner­müd­li­che Akti­vist und ehe­ma­li­ge Chief der Nes­kon­lith Indi­an Band und des gesam­ten Shus­wap Natio­nal Coun­cil. Er warn­te vor der Zer­split­te­rung der Wider­stands­be­we­gung und hielt 2014 eine denk­wür­di­ge Rede an einem Tref­fen von ca. 60 tra­di­tio­nel­len Chiefs und gewähl­ten Stam­mes­rats­mit­glie­dern in Nova Sco­tia, bei dem das Netz­werk der Defen­ders of the Land gegrün­det wur­de – einem Mei­len­stein im gemein­sa­men Ein­satz für Land­rech­te. Zusam­men mit dem radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len Russ Diabo und Klan­mut­ter Judy Da Sil­va, lang­jäh­ri­ge Akti­vis­tin der Asub­pee­scho­see­wa­gong (Gras­sy Nar­rows) First Nati­on ent­war­fen sie die Visi­on einer natio­na­len Land­rechts­po­li­tik, getra­gen auch von nicht-indi­ge­nen Kräf­ten; nur gemein­sam kön­ne man den Staat zwin­gen, die von den Indi­ge­nen errun­ge­nen recht­li­chen Instru­men­te anzu­wen­den (3), was nichts ande­res hie­ße, als eine regel­rech­te Deko­lo­ni­sie­rung Kana­das ein­zu­lei­ten.

Wenn die­se rich­tig ein­ge­setzt wür­den, könn­ten sie das Land ihren Bedürfnissen gemäß gestal­ten, indem sie die von Kon­zer­nen geführ­te Roh­stoff­ge­win­nung neu ver­han­deln und sicher­stel­len wür­den, dass die First Nati­ons eine ange­mes­se­ne Land­ba­sis zurückerhalten, um eine nach­hal­ti­ge Wirt­schaft für den Eigen­be­darf zu ent­wi­ckeln. Bis jetzt hat die Gesetz­ge­bung der Pro­vin­zen die Rück­ga­be von Land ver­hin­dert. «Ein Wan­del kommt nie von Rich­tern oder Poli­ti­kern», war Manu­el der Überzeugung, «eine wirk­li­che Ver­än­de­rung wird erst statt­fin­den, wenn eine Bewe­gung hin­ter den Aktio­nen vor Ort steht und die Durch­set­zung unse­rer Rech­te erzwingt». Nur gemein­sam sind wir stark, und mit unse­ren nicht-indi­ge­nen Unterstützungsgruppen». 

Art Manu­el hat auch uns damit gemeint. 

Pre­mier Tru­deau gibt aber die Kon­trol­le nicht ab; 2020 schlägt er ohne Ein­be­zug der Indi­ge­nen ein Gesetz (Bill C‑15) vor, wie UNDRIP umge­setzt wer­den soll: nicht Völ­ker­recht soll gel­ten, son­dern das kolo­nia­le Gesetz der «Doc­tri­ne of Dis­co­very».

Arthur Manuel mit Helena Nyberg und Monika Seiller, Wien 2006

Arthur Manu­el, Shus­wap, mit den Redak­to­rin­nen von Maga­zINC und Coyo­te, Wien 2006. © AKIN

Kana­da an der UNO – auch hier eine Geschich­te der Wei­ge­run­gen

Im Prin­zip will man also nichts ändern: Die bestehen­den natio­na­len Geset­ze, die viel­fach indi­ge­ne Rech­te ver­let­zen, sol­len wei­ter­hin über der UNDRIP ste­hen und Land­be­sitz sowie Selbst­be­stim­mung aus­schlie­ßen. Mit die­ser Arro­ganz tritt Kana­da auch an der UNO auf.

Seit 1998 ver­folgt die Euro­päi­sche Alli­anz für die Selbst­be­stim­mung Indi­ge­ner Völ­ker, bei der Inco­min­di­os Mit­glie­dist, das Ver­hal­ten Kana­das an der UNO. Ganz gene­rell fällt auf, daß es kein ein­zi­ges Men­schen­rechts­gre­mi­um oder ‑ver­fah­ren gibt, von dem Kana­da nicht kri­ti­siert wor­den wäre, ins­be­son­de­re in Bezug auf die Ungleich­be­hand­lung Indi­ge­ner Völ­ker und die Ver­let­zung ihrer Rech­te. Peter Schwarz­bau­er, Obmann unse­rer Alli­ance-Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on AKIN in Wien, doku­men­tiert jeden Auf­tritt Kana­das an der UNO, bei dem das Land über Fort­schrit­te in der Men­schen­rechts­po­li­tik oder die Behe­bung von Miss­stän­den berich­ten muss.

Die übrigen UN-Mit­glieds­län­der bewerten/kritisieren kon­struk­tiv des­sen Poli­tik und geben Emp­feh­lun­gen ab. Es ist kaum zu glau­ben, aber es gibt wenig Fäl­le, bei denen Kana­da einen Bericht der UNO recht­zei­tig vor­ge­legt oder ord­nungs­ge­mäß auf Emp­feh­lun­gen reagiert hat; vie­le der Ein­wän­de und Emp­feh­lun­gen wur­den sogar rund­weg abge­lehnt. Bis heu­te. Ein Zei­chen von Arro­ganz der Mäch­ti­gen, die gegenüber den Schwä­che­ren kei­ne Ver­ant­wor­tung übernehmen. Sol­che Kon­flik­te bre­chen welt­weit immer wie­der auf – sie müs­sen auch im Fall von Kana­da benannt und ver­ur­teilt wer­den.

Hele­na Nyberg, Zürich,
Men­schen­rechts­exper­tin Inco­min­di­os
www.incomindios.ch

Der Arti­kel erschien im Maga­zinc Nr. 55 / Mai 2021.


(1) «Cana­da» = urspr. Name für ein Iro­ke­sen­dorf.

(2) Idle No More (2012); zuvor Oka-Kri­se (1990): Wen­de­punkt in der Bezie­hung zw. First Nati­ons und Regie­rung; schuf das Bewusst­sein für Land­an­sprü­che und sys­te­mi­schen Ras­sis­mus; führ­te zur Ein­rich­tung der Roy­al Com­mis­si­on on Abori­gi­nal Peo­p­les.

(3) Die Fest­schrei­bung der indi­ge­nen Rech­te in der kana­di­schen Ver­fas­sung, wich­ti­ge Urtei­le des Obers­ten Gerichts­hofs (z.B. Del­gamu­ukw 1997 stell­te mündliche Überlieferung der schrift­li­chen gleich) und die UNDRIP.



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