März 23, 2020

Coro­na-Virus und Indi­ge­ne in Nord­ame­ri­ka

In den USA haben sich (Stand 17.3.2020) min­des­tens 4.661 Men­schen mit dem Virus infi­ziert, wobei sich eine beson­de­re Kon­zen­tra­ti­on mit über 1.000 Infi­zier­ten allein im Süd­wes­ten der USA zeigt. Der Süd­wes­ten ist der Lebens­raum zahl­rei­cher indi­ge­ner Völ­ker, u.a. Dineh, Hopi, Hava­su­pai, Apa­che, Pue­blo. Die berühm­ten Was­ser­fäl­le Hava­su Falls muss­ten bereits geschlos­sen wer­den, um eine Gefahr der rund 200 Indi­ge­nen in Supai durch infi­zier­te Tou­ris­ten zu redu­zie­ren. Eine Gesund­heits­ver­sor­gung in dem Dorf inmit­ten des Grand Can­yon ist nicht mög­lich.

Auch für die größ­te Reser­va­ti­on der Nava­jo Nati­on mit 150.000 Dineh ist die hygie­ni­sche und medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung äußerst pro­ble­ma­tisch. Nur den wenigs­ten Tou­ris­ten, die sich an den Sehens­wür­dig­kei­ten wie Monu­ment Val­ley oder Grand Can­yon ergöt­zen, dürf­te bekannt sein, dass nur 40% der Häu­ser über flie­ßend Was­ser ver­fü­gen. Für die gan­ze Regi­on gibt es nur elf ambu­lan­te „Gesund­heits­zen­tren“, von denen nur weni­ge über einen 24-Stun­den-Ser­vice ver­fü­gen und die meis­ten abends und an den Wochen­en­den geschlos­sen sind, sowie eine Kli­nik, das Fort Defi­ance Indi­an Hos­pi­tal. Die Nava­jo Nati­on ver­kün­de­te prä­ven­tiv den Not­stand im Reser­vat. Da nicht alle Dineh Eng­lisch spre­chen, gibt es inzwi­schen eine eige­ne Über­set­zung in ihre Spra­che – COVID-19 heißt nun „Dikos Ntsaaí­gíí-19“ (www.ndoh.navajo-nsn.gov) .

Auch in den Bun­des­staa­ten North und South Dako­ta ent­spricht die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung kei­nes­wegs den not­wen­di­gen Stan­dards. Nach­dem ein Mit­ar­bei­ter des Indi­an Health Ser­vice (IHS), des india­ni­schen Gesund­heits­diensts, auf der Yank­ton Sioux Tri­be Reser­va­ti­on in South Dako­ta ver­gan­ge­ne Woche posi­tiv auf COVID-19 getes­tet wur­de, beschloss die Schul­be­hör­de die Schlie­ßung der Mar­ty Indi­an School. Am Frei­tag, den 13.03., ver­kün­de­te die Stam­mes­re­gie­rung eine „Decla­ra­ti­on of Dis­as­ter“, d.h. den Kata­stro­phen­zu­stand für das Reser­vat. Sämt­li­che Ein­rich­tun­gen und Büros wur­den geschlos­sen und es wur­de ein Rei­se­ver­bot ver­hängt.

Für die Indi­ge­nen – ob im Süd­wes­ten oder in den Plains – ergibt sich eine beson­ders pre­kä­re Situa­ti­on, da die Fami­li­en auf engs­tem Raum zusam­men­le­ben, dar­un­ter natür­lich auch die Alten, die vom Coro­na-Virus wesent­lich stär­ker betrof­fen wer­den. 51% der Indi­ge­nen in South Dako­ta leben zudem unter­halb der Armuts­gren­ze (Des­in­fek­ti­ons­mit­tel kön­nen sie sich nicht leis­ten) und vie­le Indi­ge­ne miss­trau­en dem Indi­an Health Ser­vice, so dass sie kei­ne Hil­fe von staat­li­cher Sei­te in Anspruch neh­men, was einer Aus­brei­tung des Virus wei­te­ren Vor­schub leis­ten könn­te. Miss­trau­en und Angst sind his­to­risch begrün­det: Seit Beginn der Kolo­nia­li­sie­rung wur­den immer wie­der Krank­hei­ten und Seu­chen gezielt gegen die indi­ge­ne Bevöl­ke­rung ein­ge­setzt.

Am 10.03. erklär­te bereits Ogla­la-Prä­si­dent Juli­an Bear Run­ner den Not­stand, nach­dem der Ogla­la Sioux Tri­be bis dato vom IHS kei­nen ein­zi­gen Viren­test zur Ver­fü­gung erhielt.

An der Gesund­heits­ver­sor­gung der Indi­ge­nen in den USA wur­de schon immer gespart und dies kann nun ange­sichts der Coro­na-Pan­de­mie ver­hee­ren­de Fol­gen nach sich zie­hen, denn es fehlt an allem: Viren­tests, Medi­ka­men­te, Bet­ten­ka­pa­zi­tä­ten, medi­zi­ni­sches Per­so­nal etc.

Auf Initia­ti­ve von Sena­tor Tom Udall (Demo­krat aus New Mexi­co) haben 27 Sena­to­ren ein sofor­ti­ges Hilfs­pa­ket für die india­ni­sche Gesund­heits­ver­sor­gung in Höhe von $ 40 Mil­lio­nen gefor­dert. Auch das US-Abge­ord­ne­ten­haus hat ein Not­pro­gramm in Höhe von $ 64 Mil­lio­nen für 2,5 Mil­lio­nen Indi­ge­ne in den Reser­va­ten ein­ge­bracht, das noch auf die Zustim­mung durch den Senat war­tet. Der Natio­nal Coun­cil of Urban Indi­an Health drängt jedoch dar­auf, auch finan­zi­el­le und medi­zi­ni­sche Hil­fen für die Indi­ge­nen jen­seits der Reser­va­te zur Ver­fü­gung zu stel­len, die meist ohne jede Gesund­heits­ver­sor­gung in den Städ­ten leben und inzwi­schen die Mehr­heit der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung bil­den. Bei der letz­ten gro­ßen Grip­pe-Epi­de­mie 2009 lag die Sterb­lich­keits­ra­te der Indi­ge­nen vier­mal höher als der US-Durch­schnitt.

Auch wirt­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen der Pan­de­mie haben „Indi­an Coun­try“ erreicht: Inzwi­schen wur­den meh­re­re india­ni­sche Casi­nos geschlos­sen, nach­dem ein Mit­ar­bei­ter in Ore­gon sich mit dem Coro­na-Virus infi­ziert hat­te.

Coro­na-Virus und Indi­ge­ne in Kana­da

Zur Stun­de beläuft sich die Zahl der Infi­zier­ten in Kana­da zwar „nur“ auf 477 Per­so­nen, aber dies kann sich wie in ande­ren Län­dern auch rasant ändern. Pre­mier­mi­nis­ter Jus­tin Tru­deau, der sich seit einer Woche in selbst­ge­wähl­ter Qua­ran­tä­ne in sei­nem Haus in Rideau, Que­bec, befin­det, nach­dem sei­ne Frau Sophie posi­tiv auf COVID-19 getes­tet wur­de, erklär­te am 17.03. die Schlie­ßung der kana­di­schen Gren­zen für alle Nicht-Kana­di­er – mit Aus­nah­me der US-Ame­ri­ka­ner – und ver­sprach, alle Maß­nah­men zu ergrei­fen, um die Aus­brei­tung des Virus ein­zu­däm­men.

Die Minis­ter­prä­si­den­ten von Alber­ta und Bri­tish Colum­bia, wo sich die Infek­ti­ons­fäl­le beson­ders häu­fen, kamen ihm bereits zuvor. In der Pazi­fik­pro­vinz wur­den offi­zi­ell 103 infi­zier­te Per­so­nen und vier Todes­fäl­le bestä­tigt. Auch hier wird mit Schlie­ßun­gen, Heim­ar­beit und „sozia­ler Distanz“ reagiert, um grö­ße­re Men­schen­an­samm­lun­gen und damit wei­te­re Anste­ckun­gen zu ver­hin­dern.

Wie auch in den USA sind die indi­ge­nen Gemein­den in Kana­da kaum gerüs­tet für die aktu­el­le Situa­ti­on – gera­de in Bri­tish Colum­bia, wo vie­le indi­ge­ne Völ­ker in klei­nen Reser­va­ten mit völ­lig über­be­leg­ten Häu­sern ohne flie­ßend Was­ser leben, die weder über Ärz­te noch über medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen ver­fü­gen und Pati­en­ten in weit ent­fern­te Kli­ni­ken geflo­gen wer­den müss­ten.

Völ­lig über­for­dert erklär­te Marc Mil­ler, Kana­das Minis­ter für indi­ge­ne Dienst­leis­tun­gen, am 10.03., die Regie­rung sei sich der beson­de­ren Bedro­hung der Indi­ge­nen bewusst und arbei­te an einem Not­fall­plan für die indi­ge­nen Gemein­den, der auch die Ver­sor­gung mit Hygie­ne­prä­pa­ra­ten und Fla­schen­was­ser sowie Not­zel­ten vor­se­he. Der Not­fall­plan der Regie­rung ist ein erschre­cken­des Armuts­zeug­nis für die Miss­ach­tung der Indi­ge­nen. So kri­ti­sier­te Nuna­vuts Sena­tor Den­nis Pat­ter­son die völ­lig unzu­rei­chen­den Plä­ne: „Auf wel­chem Pla­ne­ten lebt die Regie­rung eigent­lich. Dies ist die Ark­tis. Ich will hier kei­ne COVID-19-Opfer in Zel­ten bei Minus­gra­den inmit­ten von Eis und Schnee um Luft rin­gen und lei­den sehen.“

Unge­ach­tet der Ankün­di­gung von Mil­ler muss­te selbst Gesund­heits­mi­nis­te­rin Pat­ty Haj­du ein­räu­men, dass es trotz der pro­gnos­ti­zier­ten Infek­ti­on von 30–70% aller Kana­di­er bis­lang für die Indi­ge­nen kei­ne kon­kre­ten Ein­schät­zun­gen, Emp­feh­lun­gen oder gar Maß­nah­men gebe. Die Regie­rung, die die Band Coun­cils (Stam­mes­ver­wal­tun­gen) der First Nati­ons ger­ne unter Kura­tel stellt, wenn es um Res­sour­cen­fra­gen geht, erklärt nun, man erken­ne die „Auto­ri­tät“ der Band Coun­cils an, geeig­ne­te Ent­schei­dun­gen gegen die Aus­brei­tung des Coro­na-Virus zu tref­fen. Sprich: Otta­wa lässt die Indi­ge­nen ein­fach im Stich.

Am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag, den 12.03., war ein Tref­fen zwi­schen Tru­deau, den Minis­ter­prä­si­den­ten der Pro­vin­zen und Ver­tre­tern indi­ge­ner Orga­ni­sa­tio­nen geplant, das jedoch auf­grund von Tru­deaus selbst­ge­wähl­ter Qua­ran­tä­ne abge­sagt wur­de. Statt­des­sen hielt Tru­deau nur eine Tele­fon­kon­fe­renz mit den Funk­tio­nä­ren der Assem­bly of First Nati­ons, Inu­it Tapi­ri­it Kanata­mi und des Metis Natio­nal Coun­cil ab, wel­che nicht die Gesamt­heit der Indi­ge­nen reprä­sen­tie­ren.

Coro­na-Virus und der Wider­stand der Wet’suwet‘en

Das Coro­na-Virus dürf­te nicht der ein­zi­ge Grund gewe­sen sein, wes­halb Tru­deau lie­ber nicht mit der indi­ge­nen Basis kon­fron­tiert wer­den woll­te. Hat­te er unlängst noch ver­spro­chen, die UN-Dekla­ra­ti­on der Rech­te der indi­ge­nen Völ­ker (UNDRIP, 2007) in kana­di­sches Recht umset­zen zu wol­len, zeig­te sich in den ver­gan­ge­nen Wochen, wie wenig das Wort des Pre­mier­mi­nis­ters wert ist, wenn es um indi­ge­nes Land und die Mit­spra­che der Indi­ge­nen bei der Nut­zung von Res­sour­cen geht – dem Kern­prin­zip der UNDRIP.

Am 6. Febru­ar 2020 hat­te die Bun­des­po­li­zei RCMP das Pro­test­camp der Unist’ot’en in Bri­tish Colum­bia gestürmt, mit dem sich die Indi­ge­nen und die tra­di­tio­nel­len Chiefs gegen die Coas­tal Gas­link von LNG Cana­da weh­ren, denn die Gas­pipe­line führt vom Nord­os­ten der Pro­vinz quer durch das tra­di­tio­nel­le Land der Wet’suwet’en bis nach Kiti­mat an die Pazi­fik­küs­te.

Seit­dem sor­gen die Pro­tes­te in ganz Kana­da für Schlag­zei­len, wäh­rend in Euro­pa nie­mand dar­über berich­tet. Indi­ge­ne und Unter­stüt­zer orga­ni­sier­ten im gan­zen Land Demos und Mahn­wa­chen, errich­te­ten Blo­cka­den, leg­ten ins­be­son­de­re mit Unter­stüt­zung der Mohawk den Bahn­ver­kehr im Osten Kana­das lahm und besetz­ten Brü­cken und Regie­rungs­ge­bäu­de. Die Wel­le der Aktio­nen und der Soli­da­ri­sie­rung mit den Wet’suwet’en erin­ner­te an den Auf­bruch der „Idle No More“-Bewegung 2012, die unter Tru­deaus Vor­gän­ger Ste­phen Har­per Kana­da erschüt­ter­te, aber auch an Oka 1990, als die Mohawk in Que­bec ihr Land und ihre Rech­te durch eine 270-tägi­ge Blo­cka­de ver­tei­dig­ten.

Vor dem Tref­fen mit Tru­deau hat­te AFN-Chief Pierre Bel­leg­ar­de noch die Bedeu­tung der UNDRIP als „Mit­tel der Ver­söh­nung“ (Tru­deaus Lieb­lings­phra­se) beschwo­ren, die dann der Tages­ak­tua­li­tät um das Coro­na-Virus geop­fert wur­de.

Der Wider­stand der Wet’suwet’en und ihrer Unter­stüt­zer ist unge­bro­chen, doch ange­sichts der Coro­na-Pan­de­mie las­sen sich die bis­he­ri­gen Mit­tel und Metho­den nicht auf­recht­erhal­ten, wes­halb sie die Akti­vi­tä­ten nun ins Digi­ta­le ver­la­gern. Mit einem Auf­ruf vom 16.03. for­dern Sie uns zu einer „Woche der Online-Akti­on“ auf und bit­ten um Brie­fe und Emails sowie Pos­ting in den sozia­len Medi­en zur Unter­stüt­zung ihrer For­de­run­gen (Info-update unter www.instagram.com/gidimten_checkpoint).

In Soli­da­ri­tät mit dem indi­ge­nen Wider­stand,

Moni­ka Seil­ler
Akti­ons­grup­pe India­ner & Men­schen­rech­te e.V. / Mün­chen



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