Juli 12, 2021

Der schwie­ri­ge Weg eines Cree zur Iden­ti­tät – „Mamas­katch“ von Dar­rel McLeod

„Mamas­katch“, aus­ge­zeich­net mit dem renom­mier­ten „Gover­nor General’s Award“, ent­spricht nicht den Kli­schees der „India­ner­li­te­ra­tur“. Weder behan­delt es die wahl­wei­se roman­ti­sche oder krie­ge­ri­sche Geschich­te des 19. Jahr­hun­derts noch bie­tet es ein Hel­den­epos oder gar eso­te­ri­sche Erkennt­nis­se. Viel­mehr ist es die Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te eines jun­gen Cree, der im heu­ti­gen Kana­da mit den Dämo­nen der Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart kämp­fen muss, um sei­ne eige­ne Iden­ti­tät zu fin­den. 

Gera­de die­se indi­ge­nen Autoren und ihre Geschich­ten haben es schwer, auf dem deut­schen Buch­markt zu bestehen, denn in vie­len Köp­fen spu­ken noch ver­zerr­te Kli­schees von Win­nen­tou & Co. her­um. Oft sind es gera­de die „India­ner­fans“, die sich sol­chen Erzäh­lun­gen ver­wei­gern, da sie einen scho­nungs­lo­sen Blick auf die indi­ge­ne Gegen­wart wer­fen und dabei ihre Cha­rak­te­re als Men­schen mit allen Vor­zü­gen und Feh­lern offen­ba­ren. „Mamas­katch“ ist ein sol­ches Buch, das den Leser mit der Rea­li­tät indi­ge­nen Lebens kon­fron­tiert und in den Bann zieht.

Mamas­katch — die Wor­te sei­ner Mut­ter

selt­sam, eigen­ar­tig, außer­ge­wöhn­lich, groß­ar­tig und wun­der­sam

Das lächeln­de Jun­gen­ge­sicht des klei­nen Dar­rel auf dem Cover strahlt Freu­de, Neu­gier­de und Zuver­sicht aus und lässt noch nicht erah­nen, wel­chen schwie­ri­gen Weg der Cree gehen soll­te, ehe er mit „Mamas­katch“ den ers­ten Teil sei­ner Memoi­ren vor­le­gen wür­de. 

Mamaskatch, Autor: Darrel McLeod

Mamas­katch, Autor: Dar­rel McLeod

Sei­ne Mut­ter wür­de das Buch genau mit die­sem Wort bezeich­nen, denn der Begriff, der sich wie ein roter Faden durch die Geschich­ten zieht, ist so viel­fäl­tig ist wie Dar­rels Lebens­ge­schich­te: selt­sam, eigen­ar­tig, außer­ge­wöhn­lich, groß­ar­tig und wun­der­sam. 

Indem der Autor sei­nem Buch ein Zitat von Sart­re vor­an­stellt, das auf die Her­aus­for­de­run­gen an die indi­vi­du­el­le Ent­wick­lung und Auto­no­mie inmit­ten gesell­schaft­li­cher Prä­gun­gen ver­weist, ver­deut­licht er zugleich das Span­nungs­feld, in dem er sich als Cree in einer wei­ßen Mehr­heits­ge­sell­schaft behaup­ten muss, um ange­sichts der Wider­stän­de sei­ne Frei­heit zu erlan­gen – auch gegen­über wohl­mei­nen­den Kli­schees.

Ver­lust von Kul­tur, Spra­che und Tra­di­tio­nen

Mit sei­nen Memoi­ren wen­det sich der Autor sowohl an indi­ge­ne Leser, denen er mit sei­ner eige­nen Lebens­ge­schich­te Mut machen und Hoff­nung geben will, sowie an nicht-indi­ge­ne Leser, denen er die Augen öff­nen will für den Kolo­nia­lis­mus, der in Kana­da rasant und bru­tal ver­lief. Inner­halb nur einer Gene­ra­ti­on ver­än­der­te sich das Leben der Indi­ge­nen gra­vie­rend – die Fol­ge waren der Ver­lust von Kul­tur, Spra­che und Tra­di­tio­nen sowie ein gene­ra­tio­nen­über­schrei­ten­des Trau­ma, das aus den leid­vol­len Erfah­run­gen der Resi­den­ti­al School und des „Six­ties Scoop“ resul­tiert. Ziel die­ser Zwangs­maß­nah­men war nicht weni­ger als die geno­zi­da­le Zer­stö­rung der indi­ge­nen Iden­ti­tät. Dar­rel McLeod ver­deut­lich die­se Aus­wir­kun­gen nicht anhand poli­ti­scher Debat­ten oder des Kamp­fes um Land und Res­sour­cen, son­dern am Bei­spiel der Ver­hee­run­gen inner­halb sei­ner eige­nen Fami­lie und ins­be­son­de­re am Schick­sal sei­ner Mut­ter Ber­tha, um die sein Leben kreist – hin und her geris­sen zwi­schen Lie­be und Zurück­wei­sung von bei­den Sei­ten.

Autor Darrel J. McLeod

Autor Dar­rel J. McLeod (Bild: ledevoir.com)

In scho­nungs­lo­ser Offen­heit teilt er mit den Lesern die Erfah­run­gen der eige­nen Ver­letz­lich­keit und jene der indi­ge­nen Gemein­schaf­ten, die noch immer an den Rand gedrängt und aus­ge­grenzt wer­den. „Mamas­katch“ kann somit als Kom­men­tar zur aktu­el­len Debat­te um Ver­söh­nung (recon­ci­lia­ti­on) ver­stan­den wer­den, wel­che die Regie­rung wie ein Man­tra wie­der­holt, ohne die Feh­ler der Ver­gan­gen­heit wirk­lich anzu­er­ken­nen – oder gar zu begrei­fen.

Geschich­ten erzäh­len — Das Erbe sei­ner Mut­ter

Doch Dar­rel McLeod will die ver­hee­ren­den Fol­gen der kolo­nia­lis­ti­schen Poli­tik nicht als his­to­ri­sches oder zeit­ge­schicht­li­ches The­ma behan­deln, das gera­de für vie­le nicht-indi­ge­ne Leser zu abs­trakt bleibt, son­dern viel­mehr anhand des indi­vi­du­el­len Schick­sals einer Fami­lie das tief­set­zen­de Trau­ma anschau­lich wer­den las­sen. Dies gelingt nur, indem er sei­ne Geschich­te offen und direkt ver­mit­telt – und dabei auf indi­ge­ne Erzäh­ler­tra­di­tio­nen zurück­greift. Gleich­zei­tig reflek­tiert die gebro­che­ne Erzähl­struk­tur die Brü­che in sei­ner Bio­gra­fie, die durch den Erzäh­ler­wech­sel zur Stim­me sei­ner Mut­ter eine wei­te­re Dimen­si­on eröff­nen.

Das Geschich­ten­er­zäh­len hat er von sei­ner Mut­ter geerbt, die den klei­nen Dar­rel sogar nachts aus dem Schlaf hol­te, um in mäan­dern­den Beschrei­bun­gen von alten Zei­ten, aber auch Fami­li­en­tratsch oder mythi­schen Ele­men­ten der indi­ge­nen Kul­tur der Cree zu erzäh­len. Schon als Kind ist er fas­zi­niert, wenn Ber­tha den Faden der Erzäh­lung weit aus­wirft, um ihn nach lan­gen Abschwei­fun­gen treff­si­cher wie­der ein­zu­fan­gen, und die Erzäh­lung zu ihrem Ende bringt. Mit die­sen typi­schen Ele­men­ten der nicht-linea­ren münd­li­chen Über­lie­fe­rung legt sie den Grund­stein für Dar­rels spä­te­re Autoren­schaft, die sowohl Teil sei­ner Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te ist wie auch zur Hei­lung bei­trägt, denn Hei­lung ist drin­gend nötig, um die Schmer­zen der tie­fen Nar­ben zu lin­dern, die nicht nur Dar­rel und Ber­tha, son­dern alle Indi­ge­nen erlei­den muss­ten. Und die noch bis heu­te schmer­zen.

Ber­tha McLeod lern­te alles Cree zu ver­ach­ten

Mutter des Autors, Bertha McLeod, 17 Jahre

Mut­ter des Autors, Ber­tha McLeod, 17 Jah­re (Bild: bcbooklook.com)

Ber­tha wuchs bei ihrer Fami­lie in der Wild­nis des nörd­li­chen Alber­ta auf. Es war eine glück­li­che Kind­heit – bis die RCMP kam, um sie mit sechs Jah­ren aus der Fami­lie zu rei­ßen und in die Resi­den­ti­al School zu ste­cken. Auch ihre Schwes­ter, Cou­si­nen oder Tan­ten muss­ten nun ler­nen, alles Indi­ge­ne nicht nur zu ver­ges­sen, son­dern zu ver­ach­ten. Furcht ersetz­te Für­sor­ge. Das Urteil des Jüngs­ten Gerichts schien vor­ge­zeich­net: Wer sich nicht von den alten Tra­di­tio­nen abwand­te und wei­ter­hin Cree sprach, wür­de unwei­ger­lich in der Höl­le lan­den. Einen Vor­ge­schmack auf die ewi­ge Ver­damm­nis lie­fer­ten die dra­ko­ni­schen Stra­fen, mit denen die Non­nen die Kin­der züch­tig­ten und auf den christ­lich-alt­tes­ta­men­ta­ri­schen Weg zurück­brin­gen woll­ten.

Die Heu­che­lei der Non­nen und Pries­ter ent­larvt der Autor nicht allein mit der Beschrei­bung von Stra­fen oder Miss­brauch, son­dern eben­so in den sinn­lo­sen Ritua­len, wenn die Kin­der das „Vater unser“ oder „Ave Maria“ auf Eng­lisch nach­plap­pern soll­ten, obwohl sie kein ein­zi­ges Wort ver­stan­den – nicht nur wegen der eng­li­schen Spra­che, son­dern auch der frem­den Begriff­lich­keit, die in den Kul­tu­ren der Indi­ge­nen kei­ne Ent­spre­chung hat. Die Absur­di­tät die­ser Ritua­le offen­bart sich auch dar­an, dass die katho­li­schen Non­nen selbst nur gebro­chen Eng­lisch spre­chen, aber die Kin­der für jeden Feh­ler bestra­fen.

„Die Spra­che ist die See­le einer Kul­tur.“

Wer die Spra­che zer­stört, zer­stört das Fun­da­ment die­ser Kul­tur und damit die Iden­ti­tät der Indi­ge­nen. „Mamas­katch“ ist durch­setzt mit Cree-Wör­tern, denn sie sind auch für den Autor das Band zur eige­nen Her­kunft und Iden­ti­tät. Doch wie vie­le Über­le­ben­de der Resi­den­ti­al Schools ver­bot auch Ber­tha ihren Kin­dern, Cree zu spre­chen, denn sie woll­te sie vor der „Höl­le“ bewah­ren. Obwohl sie selbst an Spra­che und Tra­di­tio­nen fest­hielt, war die Gehirn­wä­sche erfolg­reich genug, um die Ent­wur­ze­lung auf die nächs­te Gene­ra­ti­on zu über­tra­gen. Mit dem Aus­lau­fen des Inter­nats­sys­tems war das Schre­ckens­sys­tem noch nicht ans Ende gelangt – was folg­te war der „Six­ties Scoop“, mit dem gezielt indi­ge­ne Kin­der aus ihren Fami­li­en geholt und zumeist wei­ßen Pfle­ge­fa­mi­li­en gege­ben wur­den.

Dar­rels Kind­heit — Der Urgroß­va­ter als Vor­bild 

Auch Dar­rel hat­te zunächst eine glück­li­che Kind­heit, als er mit sei­ner Mut­ter und den bei­den Geschwis­tern Debbie und Greg­gie bei sei­nem Urgroß­va­ter Mosom auf dem Land leb­te. Mosom, der aut­ark mit und von dem Land, der Jagd und Fal­len­stel­le­rei leb­te, ist Dar­rels Held und Vor­bild. 

Darrel und Schwester Debbie

Dar­rel und Schwes­ter Debbie (Bild: bcbooklook.com)

Die enge Ver­bin­dung zu die­ser Her­kunft zeigt sich in Dar­rels Ver­bun­den­heit zur Natur, vor allem zu den Ber­gen wie den Three Sis­ters in den Rocky Moun­ta­ins in sei­ner Hei­mat Alber­ta, die ihm Ruhe und Zufrie­den­heit schen­ken. Auch das wie­der­keh­ren­de Erschei­nen von Krä­hen ver­weist auf die mytho­lo­gi­sche Tra­di­tio­nen von Vögeln als Bot­schaf­ter.

Von Schick­sals­schlä­gen in die Fän­ge der Kir­che

Doch die tra­gi­schen Ereig­nis­se neh­men ihren Lauf. Von Schick­sals­schlä­gen gezeich­net, ver­sinkt die Mut­ter in Alko­ho­lis­mus, wird gewalt­tä­tig und lässt schließ­lich ihre Kin­der im Stich. Die jün­ge­ren lan­den bei Pfle­ge­fa­mi­li­en. Häus­li­che Gewalt ist kein indi­ge­nes Cha­rak­te­ris­ti­kum, son­dern die Fol­ge von Kolo­nia­lis­mus und Ent­wur­ze­lung, doch die Gesell­schaft über­lässt die Indi­ge­nen ihrem Schick­sal.

Dar­rel wen­det sich von sei­ner Mut­ter ab und sucht neu­en Halt. Auch er gerät in die Fän­ge der Kir­che, die ihm von Sün­de pre­digt oder gar mit Exor­zis­mus die „Ver­derbt­heit“ aus­trei­ben will. Denn Dar­rel fühlt sich zu Män­nern hin­ge­zo­gen. Erst spät ver­steht er sich als Opfer von Miss­brauch, doch aus­ge­rech­net das Schwul­sein ist für die Fami­lie kein Pro­blem. Die Cree-Spra­che kennt kei­nen Unter­schied zwi­schen weib­li­chen und männ­li­chen For­men – in man­chen Kul­tu­ren gibt es fünf oder sechs ver­schie­de­ne Geschlech­ter­iden­ti­tä­ten. Die Aus­flü­ge in die Schwu­len­clubs der Groß­städ­te eröff­nen ihm jedoch eine neue Welt – und die ist vor allem weiß.

Musik als Mit­tel zur Selbst­be­haup­tung

Darrel McLeod in jungen Jahren mit Gitarre

Dar­rel McLeod in jun­gen Jah­ren mit Gitar­re (Bild: bcbooklook.com)

Der jun­ge Cree ist auf der Suche nach sei­ner Iden­ti­tät – als schwu­ler Indi­ge­ner, umge­ben von häus­li­cher Gewalt und gesell­schaft­li­cher Mar­gi­na­li­sie­rung. Doch er ist smart und ehr­gei­zig. Nicht ohne Eitel­keit ent­fal­tet er sei­nen erstaun­li­chen Wer­de­gang inner­halb der wei­ßen Gesell­schaft. Er will nicht als das Kli­schee­bild enden, das sich die Mehr­heits­ge­sell­schaft von „fau­len, besof­fe­nen India­nern“ zurecht­ge­legt hat, um der eige­nen Ver­ant­wor­tung zu ent­ge­hen. Gera­de in Dar­rels Gene­ra­ti­on gibt es eini­ge, die die­sen Weg in die Mehr­heits­ge­sell­schaft beschrit­ten haben. Trotz der Erfah­run­gen ihrer Eltern in den Inter­nats­schu­len haben sie für sich erkannt, dass Insti­tu­tio­nen nicht ihr Feind sein müs­sen und dass sie dort gar auf För­de­rer ihres Talents tref­fen, die sie in ihrer Ent­wick­lung bestär­ken und unter­stüt­zen. Sie haben ver­stan­den, dass Schu­le und Bil­dung auch ein Ange­bot sind, das ihnen einen Aus­weg aus dem ver­meint­lich vor­ge­zeich­ne­ten Schick­sal von Alko­hol, Dro­gen­miss­brauch oder Sui­zid bie­tet.

Frei­heit ist das, was wir mit dem tun, was uns ange­tan wird.“

Vor allem die Musik ist für ihn bis heu­te ein Mit­tel der Hei­lung und Selbst­be­haup­tung. Am Ende sei­ner Memoi­ren kehrt Dar­rel McLeod damit zum Ein­gangs­zi­tat von Sart­re zurück: „Frei­heit ist das, was wir mit dem tun, was uns ange­tan wird.“

Moni­ka Seil­ler
Akti­ons­grup­pe India­ner & Men­schen­rech­te e.V. / Mün­chen

Mamaskatch, Autor: Darrel McLeod

Dar­rell McLeod: „Mamas­katch“

  • 260 Sei­ten, geb., mit Abb., dt. Über­set­zung,
  • Traum­fän­ger Ver­lag, 2021, 18,90 Euro

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