Mai 3, 2022

Vom Karl-May-Beses­se­nen zum Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten

Eine außergewöhnliche Ent­wick­lungs­ge­schich­te

Die Erfah­rung jahr­zehn­te­lan­ger Unter­stüt­zungs­ar­beit für nord­ame­ri­ka­ni­sche Indi­ge­ne lehrt, dass Men­schen, die über Karl May zu „India­nern“ gefun­den haben, sich für die india­ni­sche Gegen­wart und Men­schen­rechts­ar­beit meist über­haupt nicht inter­es­sie­ren, son­dern sich eher an einem roman­ti­schen India­ner-Kli­schee­bild fest­klam­mern. Ich schei­ne da eine Aus­nah­me zu sein, denn mein ursprüng­li­ches Inter­es­se an India­nern kam auch ganz mas­siv aus die­ser Ecke.

Mein Cousin als Kotucho und ich als Pesh Endatseh am Lagerfeuer vor dem selbst genähten Tipi – 1973 (Foto Peter Schwarzbauer – Selbstauslöser)

Mein Cou­sin als Kotu­cho und ich als Pesh End­at­s­eh am Lager­feu­er vor dem selbst genäh­ten Tipi – 1973 (Foto Peter Schwarz­bau­er – Selbst­aus­lö­ser)

Das Erbe mei­nes Groß­va­ters

Mei­ne ers­te Erin­ne­rung an Karl May ist eine Sze­ne, in der ich mit mei­nem Groß­va­ter am Mor­gen im Bett lie­ge und er mir aus Win­ne­tou I vor­liest. Ich muss damals etwa 7–8 Jah­re alt gewe­sen sein. Mein Groß­va­ter war – und das ist kein Zufall – Nazi gewe­sen und auch über die­se Schie­ne zu Karl May gekom­men. Er war kei­nes­wegs Nazi der ganz üblen Sor­te, aber gewis­se Aus­sa­gen, spe­zi­ell über Juden, die mir erst viel spä­ter bewusst gewor­den sind, wie­sen auch nach dem Krieg ein­deu­tig in die­se Rich­tung. Natio­nal- sozia­lis­mus und Karl May pas­sen sehr gut zusam­men. Auch wenn ich die­se Aus­sa­gen erst viel spä­ter ein­ord­nen konn­te, sind mir die vie­len ras­sis­ti­schen Aus­sa­gen von Karl May gegen­über Schwar­zen, Mes­ti­zen, Arme­ni­ern und Juden auch heu­te noch im Gedächt­nis. Mein Groß­va­ter hat­te selbst noch knapp eini­ge Tage vor Karl Mays Tod am 22. März 1912 in Wien des­sen Vor­trag mit dem Titel „Empor ins Reich des Edel­men­schen“ (was für ein Titel, aber höchst bezeich­nend für das Spät­werk Karl Mays) besucht. Es ist his­to­risch ziem­lich sicher erwie­sen, dass die­sem Vor­trag auch ein gewis­ser Adolf Hit­ler bei­gewohnt hat.

Mein Groß­va­ter ver­erb­te mir einen gro­ßen Teil des mitt­ler­wei­le auf über 70 Bän­de ange­wach­se­nen Schrift­tums von Karl May, zu einem wesent­li­chen Teil auch in Form der alten Feh­sen­feld-Aus­ga­ben in Kurr­ent­druck­schrift. Ich ver­schlang alle in kür­zes­ter Zeit, vie­le davon auch mehr­fach, und zwar nicht nur jene mit Hand­lungs­schwer­punkt in Nord­ame­ri­ka oder im ara­bi­schen Raum, son­dern wirk­lich alle – Süd­see, Süd­ame­ri­ka, Asi­en und – weni­ger bekannt – Euro­pa.

Zur dama­li­gen Zeit hin­ter­frag­te ich nichts, ver­in­ner­lich­te alle Kli­schee­bil­der von India­nern und ging davon aus, dass Karl Mays Dar­stel­lun­gen auch der Rea­li­tät ent­spra­chen. Dar­an konn­te auch die Lek­tü­re des Ban­des „Ich“ über das Leben Karl Mays aus eige­ner Dar­stel­lung nicht viel ändern. Auf die Ner­ven, ohne die Trag­wei­te zu ver­ste­hen, ging mir aller­dings immer schon sei­ne Deutsch­tü­me­lei. Die Hälf­te der „West­män­ner“ in sei­nen „Rei­se­er­zäh­lun­gen“ waren deut­scher Abstam­mung, jene India­ner, die irgend­was mit Deut­schen zu tun hat­ten oder von ihnen belehrt wur­den (Stich­wort: Kle­kih-petra – der „wei­ße Vater“ – deut­scher Leh­rer von Win­ne­tou) waren die „guten“, wie etwa die „Apat­schen“. Die „Komant­schen“ (man beach­te in bei­den Fäl­len die unüb­li­che Karl May Schreib­wei­se) waren hin­ge­gen die „bösen“.

India­ner spie­len und der Natur so nah

Karl May beein­fluss­te mich ganz stark, von der Kind­heit bis zum Ende des Teen­ager­al­ters. Als ande­re in die Dis­ko gin­gen, fer­tig­te ich mit mei­nem Cou­sin „india­ni­sche“ Leder­klei­dun­gen an – kom­plett von der Jacke über Hose und Durch­zieh­schurz bis zu den Mokas­sins. Wir bas­tel­ten Trom­meln, schnei­der­ten ein kom­plet­tes Tipi und schnitz­ten einen Totem­pfahl. Wie aus die­ser Kom­bi­na­ti­on zu sehen ist, misch­te ich dabei alle Ele­men­te india­ni­scher Kul­tu­ren, die mir gewahr wur­den, irgend­wie zusam­men, ohne mir des­sen bewusst zu sein oder es wich­tig zu fin­den.

Mein Cousin als Kotucho und ich als Pesh Endatseh mit Büffelhaube (aus Kuhhörnern und aufgesetzt auf einen alten Steirerhut) – 1972 (Foto Peter Schwarzbauer – Selbstauslöser)

Mein Cou­sin als Kotu­cho und ich als Pesh End­at­s­eh mit Büf­fel­hau­be (aus Kuh­hör­nern und auf­ge­setzt auf einen alten Stei­rer­hut) – 1972 (Foto Peter Schwarz­bau­er – Selbst­aus­lö­ser)

Mein Cou­sin und ich ver­brach­ten mit unse­rem groß­teils selbst­ge­mach­ten Out­fit wochen­lang im Wald und in den Ber­gen am Gelän­de eines mit unse­rer Fami­lie eng befreun­de­ten Berg­bau­ern in der Stei­er­mark. Die­ses Trei­ben war irgend­wie ein Zwi­schen­ding zwi­schen Sur­vi­val­trai­ning und den Akti­vi­tä­ten diver­ser Hob­by­is­ten im deutsch­spra­chi­gen Raum, nur dass es uns im Gegen­satz zu letz­te­ren kei­nes­wegs um Authen­ti­zi­tät ging, son­dern vor allem um Roman­tik und ein Leben mit der Illu­si­on, alles was benö­tigt wird, auch selbst her­stel­len zu kön­nen. Ich ver­kör­per­te dabei den Apatschen(sic)-Häuptling Pesh End­at­s­eh (Lan­ges Mes­ser; eine Figur aus Old Shure­hand), mein Cou­sin den Shosho­ne-Häupt­ling Kotu­cho (eine Figur aus Win­ne­tou III). Wie­so wir bei­de Häupt­lin­ge unter­schied­li­cher Völ­ker waren, ohne dass die jewei­li­gen Völ­ker anwe­send gewe­sen wären, bleibt mir im Nach­hin­ein bis heu­te ein Rät­sel. Aber auch die­ser Aspekt zeigt, wie Karl May bei mir dazu geführt hat, eine eige­ne Welt im Kopf zu gestal­ten, die weit weg von jeder Rea­li­tät war.

Mei­ne Visi­on: ein Ogla­la Lako­ta bei den Berg­bau­ern

Die­se Akti­vi­tä­ten blie­ben natür­lich mei­nen Mit­schü­le­rIn­nen nicht ver­bor­gen. Ich wuss­te zwar um die­se Außen­sei­ter­rol­le, ver­steck­te sie aber nicht. Ich kann mich noch erin­nern, dass ich zu mei­nem 17. Geburts­tag von mei­nen lie­ben Klas­sen­kol­le­gIn­nen einen Plas­tik­to­ma­hawk und ein Kärt­chen mit dem Spruch „Jeder Mensch hat einen Vogel und wär ́ er noch so klein“ als Geschenk bekom­men habe.

Damals im Teen­ager­al­ter hat­te ich die aus heu­ti­ger Sicht skur­ri­le Visi­on, ein­mal, wenn ich erwach­sen sein wür­de, India­ner zu die­sem Berg­bau­ern zu brin­gen und dort eine India­ner­sied­lung mit Sub­sis­tenz­wirt­schaft auf­zu­bau­en. Vie­le Jah­re spä­ter soll­te ein ganz klei­nes biss­chen davon und in stark geän­der­ter bzw. abge­schwäch­ter Form im Rah­men der Unter­stüt­zungs­ar­beit auch Wirk­lich­keit wer­den, als ich india­ni­schen Besu­chern, dar­un­ter dem Ogla­la Lako­ta Milo Yel­lowhair, tat­säch­lich mei­ne Hei­mat zeig­te und mit ihnen die­ses Gebiet und die Bau­ern­fa­mi­lie besuch­te.

Milo Yellowhair auf Besuch bei der steirischen Bergbauerndamilie – 1985 (Foto Peter Schwarzbauer)

Milo Yel­lowhair auf Besuch bei der stei­ri­schen Berg­bau­ern­da­mi­lie – 1985 (Foto Peter Schwarz­bau­er)

Von Karl May zu Men­schen­rechts­ar­beit

Nicht zuletzt bedingt durch den Ein­fluss von Karl May woll­te ich ursprüng­lich Anthro­po­lo­gie stu­die­ren. Die stei­ri­sche Alt­bäue­rin, die mich, sowie mei­ne Lie­be zu Wald und Natur, sehr gut kann­te, brach­te mich aller­dings davon ab und riet mir zum Stu­di­um der Forst­wirt­schaft. Nicht zuletzt auch aus job­öko­no­mi­schen Grün­den folg­te ich die­sem Rat­schlag. Aller­dings nahm ich mir vor, nach Abschluss mei­nes Forst­wirt­schafts­stu­di­ums alle jene Vor­le­sun­gen und Semi­na­re an der Uni­ver­si­tät Wien zu besu­chen, die etwas mit nord­ame­ri­ka­ni­schen India­nern zu tun hat­ten.
Das tat ich dann auch und damit erfolg­te mei­ne Sozia­li­sie­rung weg von Karl May hin zur Men­schen­rechts­ar­beit. 

Es war um 1980, das Rus­sell Tri­bu­nal fand in Rot­ter­dam statt, und nord­ame­ri­ka­ni­sche India­ner­ver­tre­te­rIn­nen began­nen Euro­pa zu berei­sen. Unter den Anthro­po­lo­gie­stu­den­tIn­nen, mit denen ich mich zusam­men tat, herrsch­te die Auf­fas­sung, dass man nicht ein­fach Men­schen oder Völ­ker stu­die­ren kön­ne, ohne etwas für sie zu tun. So ent­stand auch – ohne dass es anfäng­lich so hieß – die ursprüng­li­che Kern­grup­pe des Arbeits­krei­ses India­ner Nord­ame­ri­kas.

Raus aus der Roman­tik in die har­te Rea­li­tät

Das „weg von Karl May“ gelang einer­seits durch die äußerst kri­ti­schen Mit­stu­den­tIn­nen der Völ­ker­kun­de, die in den wenigs­ten Fäl­len irgend­et­was mit Karl May am Hut hat­ten, in wei­te­rer Fol­ge aber vor allem durch die per­sön­li­che Begeg­nung mit Indi­ge­nen aus Nord­ame­ri­ka in Öster­reich und in Nord­ame­ri­ka selbst. Im Gegen­satz zu vie­len ande­ren Karl-May-Fans, die durch die per­sön­li­che Begeg­nung mit heu­ti­gen Indi­ge­nen einen Schock erlit­ten und dadurch ihr Inter­es­se über­haupt ver­lo­ren (Karl May selbst ist das bes­te Bei­spiel dafür), hielt ich nicht an den Kli­schees fest, son­dern mir wur­den dabei die Augen geöff­net.

Ich muss aller­dings zuge­ben, dass es mir anfäng­lich schon schwer fiel, mei­ne Karl-May-Vor­stel­lun­gen über India­ner kom­plett über Bord zu wer­fen. Noch auf mei­ner ers­ten USA-Rei­se Ende der 70er Jah­re ver­such­te ich, mei­ne Kli­schee­vor­stel­lun­gen im Kopf auch in der Rea­li­tät zu fin­den. Ich war ziem­lich irri­tiert, als ich erst­mals mit „wirk­li­chen“ India­nern in Mon­ta­na zusam­men­traf.

Irgend­wie und dann doch sehr rasch habe ich es aber dann geschafft, über Karl May hin­weg zu kom­men und den heu­ti­gen Rea­li­tä­ten ins Auge zu bli­cken.

Ange­sichts der vie­len Karl-May-Fes­ti­vals und der immer wie­der da und dort sprie­ßen­den „India­ner­dör­fern“ mit Volks­ver­blö­dungs­cha­rak­ter ist fest­zu­stel­len, dass immer noch sehr viel Karl-May-Gedan­ken­gut im Umlauf ist – auch wenn die Gene­ra­ti­on mei­ner Kin­der kaum mehr etwas mit Karl May anzu­fan­gen weiß. 

Obwohl es uns als Arbeits­kreis India­ner Nord­ame­ri­kas lan­ge Zeit nicht geglaubt wur­de – auch von eini­gen Mit­strei­te­rIn­nen nicht –, ist fest­zu­stel­len, dass das Publi­kum die­ser Fes­ti­vals und von India­ner­dör­fern in kei­ner Wei­se als Ziel­grup­pe für Men­schen­rechts­ak­ti­vi­tä­ten in Fra­ge kommt. Im Gegen­teil: die meis­ten die­ser Per­so­nen wol­len sich ihre Illu­sio­nen nicht neh­men las­sen und ver­wei­gern die heu­ti­ge Rea­li­tät.

In die­sem Sin­ne schei­ne ich – aus wel­chen Grün­den immer – eine Aus­nah­me zu sein. Ich ken­ne nie­man­den ande­ren, der/die einer­seits so tief wie ich in der Karl May Welt ein­ge­taucht und ande­rer­seits aber in der Lage war, die­se Welt auch wie­der zu ver­las­sen und in akti­ve Men­schen­rechts­ar­beit umzu­mün­zen.

Mein Cousin als Kotucho, ich als Pesh Endatseh in selbstgemachter Lederkleidung bei Pfeifenzeremonie – 1972 (Foto Peter Schwarzbauer – Selbstauslöser

Mein Cou­sin als Kotu­cho, ich als Pesh End­at­s­eh in selbst­ge­mach­ter Leder­klei­dung bei Pfei­fen­ze­re­mo­nie – 1972 (Foto Peter Schwarz­bau­er – Selbst­aus­lö­ser)

Peter Schwarz­bau­er


Der Autor die­ser „Bekennt­nis­se“ ist unser Obmann des Arbeits­krei­ses India­ner Nord­ame­ri­kas in Wien.



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